Skip to main content

Hochsensibilität und Hochsensitivität: Das fünfte Temperament


Nicht dadurch ist das Grundrätsel des Lebens zu lösen, dass wir abstrakte Vorstellungen und Begriffe hinpfahlen. Das allgemeine Menschenrätsel kann man in Bildern lösen. Rudolf Steiner, Das Geheimnis der Menschlichen Temperamente 1909

Die Forschung zum Thema Hochsensibilität ist noch lückenhaft, die Persönlichkeitsdiagnostik der Hochsensibilität derzeit ungenügend. Martin Bertsch schlägt einen ergänzenden, ganzheitlich Phänomenologischen Zugang zum Thema Hochsensibilität vor, der für das Verständnis und das Selbstmanagement Hochsensibler wichtig sein kann. Ein Exkurs in antike Vorstellungen zum menschlichen Wesen erweist sich dabei als erhellend. Er zeigt die frische Aktualität der alten Temperamentenlehre als Basis eines tieferen Verstehens der Hochsensibilität als fünftes Temperament. 

Kritische Einleitung

Die Hochsensibilität oder Hochsensitivität ist ein Phänomen, das seit der Veröffentlichung der Forschungen von Elaine Aron 1997 wachsende Beachtung findet. Die seither stetig steigende Publikation von Artikeln und Büchern, Weiterbildungen, Kongressen und anderen Angeboten zeigt ein derzeit reges Interesse an dieser Spielart der Natur, die an unseren Normvorstellungen des menschlichen Seins rüttelt. Freilich ist die Entdeckung der Hochsensibilität älteren Datums, man denke  nur an wissenschaftliche Arbeiten von Iwan Petrowitsch Pavlov, Carl Gustav Jung, Alice Miller, Jerome Kagan oder Samuel Pfeifer (Der sensible Mensch). 

Hier ein Beispiel älterer Studien zum Thema Temperament von Jerome Kagan. Sogenannte ‚high reactives‚, ca. 20% aller getesteten Babies, entwickeln sich später zu eher ängstlichen Erwachsenen. 

Neurophysiologisch bestehen im Zusammenhang mit der Hochsensibilität einige Hypothesen und Erklärungsmodelle, die zum Beispiel eine erhöhte Erregbarkeit der Grosshirnrinde (Bewusstsein) bewirken oder im Hypothalamus bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken dazu führen, dass mehr Wahrnehmungsinhalte bewusst werden, respektive weniger im unbewussten Teil verbleiben. Die damit zusammenhängenden Stressreaktionen führen wiederum zu hormonellen Veränderungen wie einem erhöhtem Cortisolspiegel (chronischer Stress).

Diagnostische Probleme der Hochsensibilität

Aktuell laufen in der Hauptbezugsdisziplin der Psychologie einige Forschungen zum Thema (etwa Michael Plüss, Bianca Acevedo oder Sandra Konrad) und es ist zu erwarten, dass sich in den nächsten Monaten und Jahren naturwissenschaftliche Hypothesen und Vorstellungen zur Hochsensibilität verdichten und erhärten. Allerdings muss man heute bescheidenerweise eingestehen, dass es zum Beispiel noch keine validierten und reliablen differentialdiagnostischen Tools und Tests gibt. Es wird aktuell auf Tests Bezug genommen, die im Bereich der Selbsteinschätzung ein Resultat mit Hinweischarakter liefern, mehr nicht. Dies ist gerade auch deshalb besonders kritisch zu beachten, weil Hochsensibilität droht eine populäre Diagnose zu werden, an die viele Menschen in psychischen Ungleichgewichten vielleicht gerade auch zu viele Hoffnungen binden und Tests im Sinne der Erwünschtheiten unbewusst in Richtung einer HS-Diagnose ausfüllen.

So ist es auch verständlich, dass das Thema der Hochsensibilität nicht zuletzt von der Medizin und Psychiatrie zuweilen belächelt wird, nicht zuletzt deshalb, weil die Exponenten nicht ein neues verwertbares ICD-Kranheitsbild beschreiben möchten, sondern nichts geringeres vorhaben, als das sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend enger gewordene Normalitäts-Bild der menschlichen Psyche zu erweitern (vgl. Allen Frances und Jerome Kagan).

Aus meiner Sicht beschränken sich fachliche Beiträge zu oft auf Allgemeinplätze, die schon fast einen Tautologie-Charkater haben (Hochsensibilität ist Hochsensibilität), letztlich aber wenig zur Klärung beitragen. So wird etwa erklärt, dass die Komfortzone Hochsensibler schmaler und das Nervensystem reizbarer sei.

Schwierig und bislang ungelöst ist die Unterscheidung, ob es sich bei der Hochsensibilität um eine Grundveranlagung oder einen durch Traumata geminderten Energie-Zustand handelt: Dazu Dr. med. Reimar Banis von Rubimed: „Die wichtigste Ursache für Probleme sensbiler und energetisch offener Menschen beruht aber gar nicht so sehr darauf, ob der Betreffende ‚zu zartbesaitet‘ (…) ist. Das Kernproblem liegt allermeist in ungelösten seelischen Konflikten.“ (Durch Energieheilung zu neuem Leben, Vianova 2002). Krisenzustände und Traumata (Schocktraumata oder Entwicklungstraumata) führen zu einer Hochsensibilität, die an sich keine Grundkonstitution ist, sondern ein energiegeminderter Zustand. Folglich ist der richtige Therapie-Ansatz eine Trauma-Therapie oder ein Trauma-Coaching und nicht das Entwicklen von adäquaten Coping-Selbstmanagement-Strategien. Hier besteht diagnostisch ein grosser Nachholbedarf. Dabei gilt es, Hochsensibilität als Temperaments-Grundkonstitution zu erkennen oder eben als vorübergehenden oder chronischen Trauma-Zustand.

Ein wertvolles Verständnis zu dieser heiklen Frage kann die Temperamentenlehre sein. Im Kontext diverser Konstitutionen kann das Phänomen klarer begriffen und erfasst werden. Gerade so, im Kontext von anderen Temperamenten, gewinnt die Hochsensibilität als Temperament phänomenologisch an Kontur und Gestalt. Um das Phänomen der Hochsensibilität also umfassender verstehen zu können, lohnt es sich, einen Exkurs in die Temperamentenlehre nach Galenos von Pergamon zu machen.

In der modernen Psychologie wird aus meiner Sicht aktuell etwas vorschnell eingewendet, dass dieses Modell überholt sei. Natürlich besteht heute gerade in biochemischer, anatomischer und physiologischer Hinsicht ein weitaus differenzierteres Bild als vor mehr als 2000 Jahren. Die grundlegende Ordnungsstruktur der Temperamentenlehre wurde durchaus erweitert mit neuen spezifischen Bezügen, aber meiner Ansicht nach keinesfalls widerlegt.

Man muss sich allerdings bewusst sein, dass die Temperamentenlehre nicht im heutigen Sinne naturwissenschaftlich induktiv, basierend auf empirischen Forschungen, hergeleitet, sondern im platonischen Sinne von einem idealtypischen Modell deduktiv auf das Einzelne bezogen wird.  

Temperamente und Konstitutionstypen

Das Temperament ist ein Verhaltensstil und beschreibt die Art und Weise, wie ein Lebewesen agiert und reagiert. Das Temperament ist biologisch tiefverankert und setzt sich aus emotionalen und motorischen Reaktionen zusammen. Der Begriff umschreibt relativ konstante, daher typische Merkmale des Verhaltens wie Ausdauer, Reizverarbeitung, Stimmung etc. (vgl. Wikipedia ‚Temperament‘). 

Temperament ist in der Psychologie des 20. Jahrhunderts keine einheitliche Grösse mehr. Vielmehr bestehen verschiedene Modelle nebeneinander, die kein einheitliches Bild vermitteln. Eine wichtigere Rolle spielt das Modell der Big Fife, das Fünf-Faktoren-Modell (siehe weiter unten). Neben Temperamenten spricht man etwa auch von Konstitutions-Typen.

Geschichtlicher Exkurs zur Temperamentenlehre

Die Geschichte der Temperamentenlehre geht zurück bis in das antike Griechenland und Ägypten. Die griechische Vier-Elemente-Lehre entstand durch die Diskussion von Thales, Anaximenes und Heraklit zum Thema des Urstoffes des Lebens.

Vier Elemente

Der Reihe nach meinten sie, dass Wasser, Luft und Feuer der Urstoff des Lebens sei. Empedokles fasste in seiner Lehre der vier Elemente diese Ansichten zusammen und beschrieb die Elemente als gleichwertige Kräfte, die wir heute als Aggregatzustände kennen. Die Lehre der vier Elemente wurde schliesslich die Grundlage der griechischen Medizin, der Humoralpathologie mit der Säfte-Lehre. Aus einem harmonischen Mischverhältnis der Elemente im Menschen geht Gesundheit hervor (Homöostase als dynamisches Fliessgleichgewicht), aus einem Ungleichwegicht Krankheit. Durch Ernährung durch dieVier-Elemente-Kücheoder Ausgleich schaffende Medikamente kann ein gesundes Gleichgewicht gefördert werden. Diese Vorstellung ist im Übrigen verwandt mit der hierzulande aufstrebenden indischenAyurveda-Medizin und Grundlage der griechisch-arabischen Unani-Medizin.  Auch die Anthroposophische Medizinleitet sich direkt aus der Humoralpathologischen Gesundheits- und Krankheitslehre ab. 

Die unterschiedlichen Mischverhältnisse der Elemente gehören zur Vielfalt der Natur. Auch im psychisch-emotionalen Bereich prägen die unterschiedlichen Mischverhältnisse von Erde, Wasser, Luft und Feuer verschiedene Temperaments- und Charakter-Strukturen.

Die vier Temperamente

Die eigentliche Temperamentenlehre wurde von den Ärzten Hyppokrates von Kos und später von Galenos ausgearbeitet. Sie gingen in ihrer Säftelehre von vier Grundtypen aus, dem Melancholiker (Erde), Phlegmatiker (Wasser), Sanguiniker (Luft) und Choleriker (Feuer). Folgendes Video zeigt humorvoll die Charakteristik der vier Temperamente: 

220px-Four_temperaments.svg.png

Eine gute grafische Darstellung ist auch folgendes Bild des Cholerikers, des Melancholikers, des Phlegmatikers und des Sanguinikers.

Die fünf Temperamente

Über Pythagoras (570 – 510 v. Chr.), Platon (428 – 347), Aristoteles (384 – 322) bis hin zu den Stoikern gibt es zudem eine Linie, die die (griechische) Fünf-Elemente Lehre vertraten (nicht zu verwechseln mit der Fünf-Elemente Lehre der Chinesen, die von anderen Elementen wie zum Beispiel Holz und Metall ausgehen). Dabei wird als fünftes Element der Äther (Aither) als Qunitessenz beschrieben, die dann auch in der Alchemie bis ins späte Mittelalter eine wichtige Rolle spielte. Aristoteles verband zudem die Elemente mit den Qualitäten warm, feucht, kalt und trocken (siehe Bild oben). Die Annahme liegt nahe, dass letztlich die griechische Fünf-Elemente-Lehre beeinflusst wurde durch die Vaisheshika-Philosophie (Kananda, 700 v.Chr.) als eine der sechs Säulen der indischen Philosophie, die die vier klassischen Aggregatszustände mit dem Äther (indisch Akasha) kombinierte.

220px-Five_temperaments.png

In der modernen Psychologie war es etwa der amerikanische Psychologe Wiliam Schutz, der von fünf Temperamenten sprach (ohne auf die grieschische Fünf-Elemente-Lehre bezug zu nehmen). Eine Darstellung davon findet sich links. Das mittlere 5. Temperament ist dabei ausgeglichen. 

Die fünf Temperamente in der Lebensmatrix

Vor dem Hintergrund des Lebensmatrix Meta-Modells (siehe auch >hier und >hier) können wir die vier Aspekte und Temperamente folgendermassen bildlich darstellen: 

Fuenf Elemente 1
Matrix 5 Temperamente

Links die Zuordnung der fünf Elemente mit dem Äther-Element. Rechts die Zuordnung der Temperamente mit Bezügen zu Persönlichkeitstheorien nach C. G. Jung (blau, Dimensionen Extraversion- Introversion und Animus – Anima), Hans Jürgen Eisenck (rötlich, Dimensionen Extraversion – Introversion und labil – stabil) und Wiliam Schutz (grün, Dimension Extraversion – Introversion und Aufgaben orientiert und Beziehungs orientiert). Ich selber schlage für die horizontale Ordnung die Begriffe männlich-intensional (von innen nach aussen, gebend, proaktiv) und weiblich-extensional (von aussen nach innen, aufnehmend, rezeptiv) vor. Das 5. Temperament versteht sich als gemittet. 

Der Choleriker und die Sanguinikerin sind tendenziell extravertierte Temperamente, der Melancholiker und die Phlegmatikerin introvertierte. Der Choleriker und der Melancholiker sind männliche Temperamente, die Sanguinikerin und die Phlegmatikerin weibliche. Das Bild oben zeigt Mischtypen mit Bezug auf hormonelle Charakteristika nach Helen Fischer.

Fuenf Elemente 2
Lebensmatrix mit Schwungform

Das Lebensmatrix-Modell mit den fliessenden Farben signalisiert auch, dass es sich bei den einzelnen Charakteristika um fliessende Bereiche handelt. Es lässt sich zwar ein Charakter oder Temperament verorten, Phasen- und Kontext-bezogen findet aber eine fliessende Bewegung statt, die im Bild rechts mit der Fliessbewegung charakterisiert ist. Diese Fliessbewegung ist individuell auch so ausgestaltet, dass es tote Punkte und Schwergewichte gibt, welche letztlich die Temperaments-Tendenz ausmachen. Das Modell der Lebensmatrix ist generell als Fliessmodell (wie etwa in der chinesischen Tradition üblich) zu verstehen, und nicht als starres Kategorien-Modell (wozu die abendländische Philosophie stets tendierte). 

Das Temperament und Hochsensibilität

Es stellt sich nun die Frage, wo die Hochsensibilität in der ausgebreiteten Landkarte der Temperamente zu verorten ist. Jedes der Temperamente hat aus meiner Sicht ihre Sensibilitäten. Wir denken zunächst natürlich an den Melancholiker: Seine Empfindsamkeit und geistige innere Aktivität, seine Introversion entsprechen vielen Bildern von Hochsensiblen. Aber auch die Sanguinikerin mit ihrer Empathie, die Phlegmatikerin mit ihrer Introversion und dem Helfertrieb wie auch der Choleriker, der nicht zuletzt deshalb aufbraust, weil er eben schnell verletzt wird, haben ihre Sensibilitäten. Das Rätsel kann aus unserer Sicht gelöst werden, wenn wir andere Gesichtspunkte und Themenfelder vor dem Hintergrund des Meta-Modells der Lebensmatrix betrachten (unten Charaktertypen und Archtypen in der Lebensmatrix): 

Matrix Charakter Typen   Matrix Archetypen 
Es werden in den Darstellungen immer andere Aspekte vor dem selben Meta-Modell gezeigt, wobei zum Beispiel die violetten Felder jeweils einander enstprechen (zum Beispiel Choleriker – Krieger – Motivator – Verkauf-Marketing). Gegenüberliegend (Komplementär-Farbe) ist das Gegenteil (z.B. König – Dienerin, wobei es sich jeweils um Entwicklungsfelder handelt), flankierend ähnliche Begriffe (z.B. Gelehrter mit König und Weise).

Die letzte Grafik zeigt die drei Ebenen von Geist – Seele – Körper als Kreis-Modell von Zentrum (Licht, hell), Mitte (Farbigkeit und Vielheit) und Peripherie (schwarz, Dunkelheit). Blau die Kahuna-Bezeichnungen der Selbst-Ebenen, grün die Bezeichnungen der indischen Yoga-Tradition (mit Bezügen zu EEG-Gehirnwellen) physisch (vital, Delta- und Theta oder Tiefschlaf-Ebene), emotional (Traum- oder Alpha-Ebene), mental (Wachbewusstsein oder Beta-Ebene) und kausal (Konzentration oder Gamma-Ebene).

Matrix Berufsfelder
Matrix drei Ebenen

Ich und Selbst Konstellation 

Ein wichtiger Aspekt im Bereich der Hochsensibilität bildet die Konstellation von Ich und Selbst. Unter Ich verstehe ich den inneren Beobachter (unten als Sonne dargestellt), das menschliche Bewusstsein. Wenn wir uns selber (unser Selbst, unten als Mond dargestellt) beobachten, können wir sagen, dass derjenige, der uns beobachtet, unser originäres Ich ist, was wir beobachten unser Selbst. 

Ich Selbst2

Das Ich ist im Lebensmatrix-Modell eingemittet als Lichtzentrum. Wenn Licht auf Dunkelheit trifft, entstehen nach der Farbenlehre von Johann Wolfgang von Goethe in der Durchmischung die Farben (siehe oben Farbring der drei Ebenen) und weiter Aussen herrscht dann Dunkelheit. Das (gesunde) Selbst ist im Unterschied zum beobachtenden Ich beweglich, je nach Anforderung kann es Energiequalitäten der verschiedenen Farben aktivieren. Das limitierte, neurotische Selbst steckt unter Umständen in eingeschränkten Heimatfeldern oder Fluchtfeldern fest (zum Beispiel nur introviertiert oder extravertiert, wobei dann im Sinne der Persönlichkeitsentwicklung auf eine Ausweitung hinzuarbeiten ist).

Das Selbst kann sich eher im zentralen geistigen Bereich aufhalten oder im dunklen Aussenbereich. Ersteres wäre dann ein altruistisches, Geist-bezogenes Selbst, letzteres ein egoistisches, Materie- und Selbst-bezogenes Selbst. Das Bild links zeigt schematisch verschiedene Konstellationen von Ich-Selbst Nähe und Distanz (die natürlich in allen Farbbereichen möglich ist). 

Eine Ich-Selbst-Nähe hat ein geringes Selbst-Bewusstsein zur Folge (transparenter Mond), eine Ich-Selbst-Distanz ein hohes Selbst-Bewusstsein (deckender Mond). Das Selbst können wir als eine Art Wahrnehmungsfilter verstehen: Wenn wir unseren Blick in die Welt richten, nehmen wir in einem bestimmten Ausmass immer auch uns selbst wahr und im Verhältnis dazu die Welt. Besteht eine erhöhte Weltwahrnehmung und eine verminderte Selbstwahrnehmung, sprechen wir von Hochsensibilität. Anders herum ist eine erhöhte Selbstwahrnemung auf Kosten der Weltwahrnehmung eine Charakteristik einer selbstbewussten, bodenständigen (Materie-bezogenen) Person. Wir können diese Charakteristiken beispielhaft mit einem kleinen Test nachvollziehen: Starren wir mit den Augen in den weiter entfernten Raum und legen unseren Daumen auf die Nase, sehen wir den Daumen kaum, wohl aber den Raum dahinter. Bewegen wir den Daumen weg von der Nase, gewinnt der Daumen immer mehr an Bedeutung, bis schliesslich der Fokus unseres Blickes (ähnliche wie bei einem Autofokus einer Fotokamera) auf den Daumen springt. 

Das 5. Temperament

Das fünfte Temperament ist also charakterisiert durch eine spezifische Konstellation mit folgenden Charakteristiken: 

  • hohe Weltwahrnehmung
  • geringe Selbstwahrnehmung
  • geistig
  • Materie-fern (weltfremd)
  • starker Bezug (Nähe) zum Ich (Spiritualität, Selbstanbindung, Religion)
  • energetisch vor allem Kopf-aktiv
  • Überbewusstsein und starke Über-Ich-Ausprägung
  • Künsterlisch-Ästhetische Veranlagung
  • ausgeglichenes, gemittetes Temperament
  • eher ängstlich, risikovermeidenes, zurückhaltendes Naturell (die Fühler nicht weit in die Welt strecken)
  • Harmonie-Bedürftigkeit
  • Hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit (Gamma-Frequenz), das heisst auch innere Spannungen (physisch)
  • Multitasking (Scanner-Typ nach Barbara Sher) (Weiss enthält alle Farben)

Hier zwei Kurzfilme zum Thema Scanner: 

Die Beschreibung deckt sich mit den einschlägigen Darstellungen, vielleicht bis auf den Punkt, dass Hochsensible nicht eher introvertiert sind. Die Introversion selber birgt aber meiner Ansicht nach durch den Rückzug einen Schutz, der zu Gelassenheit führt (und für Hochsensible insofern nicht typisch ist). 

Diffenrentialdiagnostische Gedanken zur Hochsensibilität

Die Gruppe der Hochsensiblen besteht aus zwei oder drei verschiedenen Kategorien:

  1. Menschen, die eine feingliedrige Gestalt und ein sensibles Gemüt als Grundkonstitution und Temperament aufweisen. Hier geht es darum, geeignete Coping-Strategien zu entwickeln („partiell steuerbare Desensibilisierung“ und „Inkarnation“).
  2. Menschen, die aufgrund von Traumata und psychischen Beeinträchtigungen eine psycho-emotionale Regression erleben. Sie wird subjektiv üblicherweise als Krise erlebt und geht mit einer in sich unausgewogenen Persönlichkeit (Persönlichkeitsstörung) einher, gekennzeichnet durch eine fehlende Homöostase. Dieses Ungleichgewicht ist verbunden mit einer verminderten Vitalität und körperliche Lebenskraft.

Dazu gibt es eine weitere Gruppe, die miteinbezogen werde sollte: Menschen, die aufgrund einer fortgeschrittenen Persönlichkeitsentwicklung einen achtsameren Bewusstseinszustand erlangen (integrales Bewusstsein). Der Unterschied zur 1. Und 2.  Gruppe besteht darin, dass das Sensibilitäts-Niveau steuerbar und die Persönlichkeit ausgewogen ist (gewährleistete steuerbare dynamische Homöostase). Diese Gruppe hat zwar eine hohe Sensitivität, es fehlen aber aufgrund der situationsadäquaten Schutz- und Abgrenzungsfähigkeit weitgehend oder ganz die negativen Aspekte der Hochsensibilität. Ich spreche hier von der Gruppe der Hochsensitiven, wobei Hochsensitivität als bewusste (und nicht unbewusste oder halbbewusste) Sensibilität zu verstehen ist.

Ziel der 1. und 2. Gruppe ist es entsprechend durch integrative Persönlichkeitsentwicklung und Bewusstseinszuwachs eine gereifte Hochsensitive Persönlichkeit zu werden.

Andere diagnostische Konstitutions- und Persönlichkeits-Lehren

Carl Huter spricht in seiner Naturell-Lehre vom Ernährungsnaturell (Phlegmatisch-Sanguinisch), Bewegungsnaturell (Melancholisch-Cholerisch) und Empfindungsnaturell (Hochsensibel). 

Ernst Kretschmer beschreibt in seiner Konstitutionspsychologie parallel dazu den PyknikerAthletiker und Leptosomen (Astheniker oder schizothymer Typus). 

Im Big-Five, Fünf-Faktoren-Modell von Louis Leon ThurstoneGordon Allport und Henry Sebastian Odbert entspricht die Hochsensibilität den Faktoren Neurotizismus und Offenheit (für Erfahrungen). 

Dazu einige Passagen aus Wikipedia: 

Big Fife

Neurotizismus:

  • Personen mit einer hohen Ausprägung in Neurotizismus erleben häufiger Angst, Nervosität, Anspannung, Trauer, Unsicherheit und Verlegenheit. Zudem bleiben diese Empfindungen bei ihnen länger bestehen und werden leichter ausgelöst. Sie tendieren zu mehr Sorgen um ihre Gesundheit, neigen zu unrealistischen Ideen und haben Schwierigkeiten, in Stresssituationen angemessen zu reagieren.
  • Personen mit niedrigen Neurotizismuswerten sind eher ruhig, zufrieden, stabil, entspannt und sicher. Sie erleben seltener negative Gefühle. Dabei sind niedrige Werte nicht zwangsläufig mit dem Erleben von positiven Emotionen verbunden.

Offenheit für Erfahrungen: 

  • Personen mit hohen Offenheitswerten geben häufig an, dass sie ein reges Fantasieleben haben, ihre positiven und negativen Gefühle deutlich wahrnehmen sowie an vielen persönlichen und öffentlichen Vorgängen interessiert sind. Sie beschreiben sich als wissbegierig, intellektuell, fantasievoll, experimentierfreudig und künstlerisch interessiert. Sie sind eher bereit, bestehende Normen kritisch zu hinterfragen und auf neuartige soziale, ethische und politische Wertvorstellungen einzugehen. Sie sind unabhängig in ihrem Urteil, verhalten sich häufig unkonventionell, erproben neue Handlungsweisen und bevorzugen Abwechslung.
  • Personen mit niedrigen Offenheitswerten neigen demgegenüber eher zu konventionellem Verhalten und zu konservativen Einstellungen. Sie ziehen Bekanntes und Bewährtes dem Neuen vor und sie nehmen ihre emotionalen Reaktionen eher gedämpft wahr.

Der Neurotizismus und die Offenheit sind in sich gegenläufige Charakteren der Wahrnehmung und „Wahrgebung“-Kreation. 

Herausforderungen der Hochsensibilität

Aus der oben beschriebenen Typologie können wir verschiedene Herausforderungen ableiten: 

Selbstachtsamkeit, die Fähigkeit, sich selber zu spüren: 

  • Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse: Was brauche ich im Moment? Wie kann ich mir das holen, was ich brauche?
  • Entfalten der Sinne und der Sinnlichkeit (Sensory-Awareness) (Eintauchen in die Welt der Materie). Zum Beispiel Körper-Bürstungen, Massagen, Kneippen etc. 
  • Körper-Achtsamkeit (Atem, Befindlichkeit, Spannungen als Ausgangspunkt von Entspannung)
  • Selbst-Mitgefühl und Freundlichkeit sich selber gegenüber entfalten

Liebe und Mitgefühl überwindet Angst, eine Brücke zur Welt hin bauen: 

  • Rückzug und Eingebrödlertum überwinden
  • das richtige Mass finden zwischen Genialität und Selbstzweifel

Ein schönes filmisches Beispiel der Angst-Überwindung zeigt folgender Spot: 

Sprühende Lebensenergie und Freude entwickeln: 

Das nachfolgende Video bringt mit einem Lied „I Want To Live“ von John Denver dieses Gefühl sehr gut zum Ausdruck: 

Aufbau von Fitness und Abhärtung: 

Ein dickes Fell kann auch antrainiert werden (genauso übrigens wie eine Hoch-Sensitivität, die eigentlich im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung automatisch eintritt). Eindrücklich demonstrien dies Shaolin-Mönche, die die Chi-Enerie im Körper lenken können: 

Auch ein schlichtes Kraft- und Ausdauertraining kann helfen. Tanzen und Bewegungstraining ist hilfreich. Gerade aber auch Kampfsport kann als gute Gegenstrategie empfohlen werden. 

Erdung

Die Herausforderung ist das Eindringen in die Materie, die Inkarnation. 

  • Fussmassage
  • Atem- und Körperübungen, Yoga
  • Erdungsübungen, Aktivierung des Beckens und der unteren Chakras

Entschleunigung und Entspannung

Das Leben im hochfrequenten Gamma-Bereich bringt oft innere Unruhe und Anspannung mit sich. Auch Geduld ist hier gefragt. 

Ausblick: von der Hochsensibilität zur Hochsensitivität

Das Lebens-Matrix-Modell zeigt eigene Grundenergien auf, aber auch Entwicklungsfelder. Das Dienende ist das Entwicklungsfeld des Königs und umgekehrt (Achse blau-orange). Die Weise braucht Durchsetzungskaft des Kriegers und Umgekehrt (Achse gelb-violett). Der Gelehrte braucht das spielerische und liebende Verbunden-Sein mit der Welt und umgekehrt (Achse rot-grün). Das Entwicklungsfeld des Hochsensiblen ist das Eindringen in die Dunkelheit (man könnte hier auch vom 6. Temperament sprechen), von der Pein der Wahrnehmung zum bewussten Wahrnehmen, von der Hochsensibilität zur bewusst gelebten und mit einer hohen Vitalität balancierten Hochsensitivität. Hochsensibilität ist die Aufgabe, seine Ängste zu besiegen und in der Sensibilität seine Stärke finden. Ein Film, der dies sehr gut zum Ausdruck bringt ist ‚Der Klang des Herzens‘: 

Coaching-Angebot für Hochsensible mit Martin Bertsch