Skip to main content

Weisheit und Kraft


Weisheit und Kraft oder Impulskontrolle und Selbstwirksamkeit als Grundlage eines erfolgreichen Lebens im Spannungsfeld von Ist und Soll

zum Teil mit Textauszügen aus NZZ Folio Artikel: „Das Experiment, der perfekte Psychotest“, 8/2008 von Reto U. Schneider

„Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.“ Eine Thematik aus der Faust Tragödie von Goethe hat auch nach über 200 Jahren nicht an Aktualität verloren. Denn wer kennt sie nicht, ambivalente Gefühle. Wir leben immer wieder in inneren und äusseren Spannungsfeldern und die Frage bleibt: Wie können wir schöpferisch und konstruktiv in Spannungen leben? Eine Frage, die insbesondere in der Arbeit mit Visionen interessiert, weil gerade da sich oft schmerzlich ein zeitliches Spannungsfeld auftut, eine Kluft von Ist und Soll. Wir haben zu diesem Theme einige interessante Perspektiven zusammengetragen.

Immer wieder erlebe ich als Coach ein etwas unheilvolles Schwarz-Weiss-Denken von Coachees: „Soll ich nun leben, was mir wirklich Spass macht, oder soll ich Risiken umgehen und weiterleben, wie ich es gewohnt bin?“ Auch hier könnten wir mit Goethe sagen: „In der Welt ist es sehr selten mit dem Entweder oder getan“.

Doch in vielen Bereichen ist dies leichter gesagt als getan. Gerade beim Leben in Spannungsfeldern beginnt nämlich nicht selten die hohe Schule. Werfen wir zunächst einen Blick in die Kindheit: Im Jahr 1968 stellte der Psychologe Walter Mischel Kinder vor die Wahl: eine kleine Belohnung jetzt eine grosse Belohnung später. Die Art wie sich die Kinder entschieden haben, haben sensationelle Aussagekraft: nicht nur über die Willensstärke, sondern über zentrale Erfolgsfaktoren im Leben.

Mischel war 25 Jahre alt, als er im Sommer 1955 zum ersten Mal auf die Karibikinsel Trinidad reiste, wo er auch die folgenden drei Sommer verbrachte. Bei Gesprächen erfuhr er, wie die Inselbewohner übereinander dachten. In den Augen der Einwanderer aus Indien waren die afrikanischstämmigen Trinidader «dem Vergnügen zugetan, vor allem bestrebt, im Moment zu leben und nicht über die Zukunft nachzudenken». Umgekehrt hielten die Afrikaner die Inder für Arbeitstiere, die «das Geld unter der Matratze verstecken, ohne je den Tag zu geniessen».

Dass die Fähigkeit zum selbstauferlegten Aufschub einer Belohnung ein wichtiger Teil der Reifung eines Menschen war, war schon lange postuliert worden. Geld sparen, eine Diät befolgen, eine Sprache lernen: Überall war diese Gabe gefragt. Wissenschaftliche Versuche dazu hatte jedoch noch niemand angestellt.

Also liess Mischel Schüler in Trinidad Fragebogen ausfüllen und sagte ihnen dann: «Ich möchte euch allen Süssigkeiten geben, habe aber nicht genug von den grossen Süssigkeiten mit dabei. Ihr könnt also heute die kleinere Süssigkeit bekommen oder bis nächsten Freitag warten, dann bringe ich euch die grosse.»

Dabei fand er zum Beispiel heraus, dass Kinder, die ohne Vater aufwuchsen, was bei den Afrikanern häufig war, oft nicht auf die grössere Belohnung warten mochten. Viele der afrikanischstämmigen Kinder zweifelten auch grundsätzlich daran, dass der weisse Experimentator tatsächlich mit den grossen Süssigkeiten auftauchen würde, und entschieden sich deshalb für die sofortige Belohnung.

1966 gründete die Universität Stanford auf ihrem Campus die Bing Nursery School, eine Kinderkrippe, die der Forschung diente. Dort führte Mischel zwischen 1968 und 1974 seine bekanntesten Experimente über die Mechanik des Belohnungsaufschubs durch.

Seine Versuchspersonen waren jünger als jene in Trinidad. Kinder zwischen vier und sechs Jahren sassen alleine vor einem Tisch im sogenannten Überraschungszimmer der Kinderkrippe, einem Raum, der durch einen Einwegspiegel einsehbar ist. Mischel hatte zuvor zwei unterschiedliche Belohnungen und eine Glocke auf den Tisch gelegt und den Kindern die Anweisung gegeben, er werde den Raum jetzt verlassen und lange nicht zurückkehren. Wenn sie bis zu seiner Rückkehr warteten, bekämen sie die grosse Belohnung. Wenn ihnen das zu lange dauere, könnten sie mit der Glocke klingeln. Er würde dann sofort zurückkommen. Dann allerdings würden sie nur die kleine Belohnung bekommen.

Fast vierzig Jahre später wurden Kinder untersucht, die am Marshmallow-Test teilgenommen hatten. Das Ergebnis war eine Sensation: Der im Alter zwischen vier und sechs Jahren absolvierte Marshmallow-Test sagte viele Eigenschaften der Kinder Jahre später mit unerwarteter Genauigkeit voraus. Aus einem einzigen Messwert – Anzahl Sekunden, die ein Kind warten konnte – liess sich lesen, ob ein Kind später ausgeglichen und kooperativ war, ob es Initiative zeigte und welche Schulnoten es nach Hause brachte. Selbst als die Kinder längst erwachsen waren, liessen sich aus ihren frühen Testresultaten Selbstbewusstsein und Stressresistenz lesen. Goleman erhob in seinem Buch „Emotionale Intelligenz“ die Fähigkeit, kurzfristigen Verlockungen für langfristige Ziele zu entsagen, der Impulskontrolle, zu einer der wichtigsten in der Lebensbewältigung.

Übertragen in die Projektmanagement-Arbeit für Selbstveränderung können wir festhalten: die Fähigkeit, Projektziele auch mit der nötigen Langfristigkeit anzusetzen, Ziele zwar anzustreben, aber dabei auch nichts zu überstürzen und die notwendige Geduld zu haben, ist von grösster Wichtigkeit. Auf diesem Weg im Spannungsfeld von Ist und Soll gilt es auch, Versuchungen zu widerstehen, Risiken in einem berechenbaren Rahmen zu halten und Schritt für Schritt voranzugehen.

Eine andere zentrale Fähigkeit scheint mir die Selbstwirksamkeit zu sein. Ein Begriff, der viel mit Vertrauen zu tun hat. Hören wir uns dazu eine Expertenstimme an:

Währenddem die Impulskontrolle damit zu tun hat, äusseren Einflüssen zu widerstehen und den Fokus auf das Ziel zu halten, hat die Selbstwirksamkeit damit zu tun, aus einer inneren Stärke und einem Vertrauen das Richtige zu tun. Ich meine, wir könnten hier auch von Weisheit und Kraft sprechen, eine Seite, die damit zu tun hat, die Vision (eine Belohnung) aufrechtzuerhalten, eine andere Seite, die damit zu tun hat, voller Glaube, Zuversicht und aus einer inneren Kraft da hinzustreben, wo ich hin möchte.