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Die Kraft der Ahnen

Eine Reise zwischen Dankbarkeit und Hoffnung

Der Blick nach hinten ist in einer erfolgs-, ziel- und zukunftsgerichteten Welt nicht sehr populär. Einzig im Schamanismus feiert die Ehrung der Ahnen ein Revival. Allerdings eher eines von zweifelhafter, regressiver Natur. Dabei spielt die Kraft der Ahnen aus integraler Sicht eine zentrale Rolle bei der Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme. Nur, in unserer turbulenten überaktiven Gesellschaft liegt diese ruhige, bescheidene Kraft im Schatten unseres Gesichtsfeldes. Martin Bertsch zeigt in diesem Artikel wichtige Hintergründe und Auswege aus einer verkannten gesellschaftlichen Krise.

Was sind Ahnen?

Ahnen sind unsere verstorbenen Vorfahren, deren Erbe wir weitertragen. Die Eltern sind Repräsentanten der Ahnen. Auch verstorbene Kinder gehören in die Kategorie der vergangenen Ahnen. Unseren Ahnen gebührt Dankbarkeit dafür, was sie an Bemühungen erbracht haben, sich selbst und ihr Leben sowie ihre Nachkommen zum blühen zu bringen, selbst wenn die Bemühungen aus unserer Sicht nicht erfolgreich oder wünschenswert erscheinen mögen. Ohne sie, gäbe es uns nicht.

Der Blick zurück ist nicht sehr populär. Ein gesellschaftlicher Schatten steht uns hier vor einer klaren Sicht. Lass mich das hier kurz beleuchten:

Eine gesellschaftliche Entwicklung vor dem Abgrund

Aus der Vogel-Perspektive ist unsere Gesellschaft nicht einfach, wie sie ist. Sie kann heilsam, gewalttätig oder krank sein. Einige humanistische Kulturkritiker wie Erich Fromm, Arno Gruen oder der Zeitgenosse Gabor Maté ragen mit ihrem Geist über den Nebel der Selbstgefälligkeit unserer Gesellschaft hinaus. Das Bild, das sie aus dieser Weitsicht von einer entmenschlichten, wirtschaftsdominierten kalten Gesellschaft zeichnen, ist wenig erfreulich. Die Verdrängung von seelischen Verletzungen und Traumata spielt dabei eine zentrale Rolle.

Aus meiner Sicht ist ein wichtiger, weit unterschätzter Problemfaktor die Unterdrückung der kindlichen Lebensfreude in der frühen Kindheit. Im Autonomie-Bestreben des Menschen zwischen dem symbiotischen Säuglings- und dem vernunftbeherrschten Erwachsenenalter ist diese sprühend freudvolle Extraversion das Lebenselixier des Heranwachsenden schlechthin. Bloss, nicht immer begegnet die Erwachsenen-Welt dieser Energie mit Wohlwollen und Gefallen. Vielmehr ist sie versucht, den kindlichen Sturm- und Drang einzudämmen und, nicht selten früh, all zu früh, an die Vernunft zu appellieren. Mit diesem Erziehungsgebaren wird aus meiner Sicht eine natürliche biografisch bedingte Extraversion eingedämmt und unterdrückt. Es mutet paradox an, dass unsere kompensatorisch überdrehte Welt den lebhaften Spieltrieb des Kindes eindämmt. Uns allen klingen die Imperative der Erwachsenen im Heim-, nicht zuletzt auch im Schul-Kontext aber in den Ohren und haben sich tief in unsere Seele gegraben: Ruhe! Sei still! Konzentriere dich!…

Golden Age, das Schönreden einer biografischen Phase, die in ihrem Wert nicht erkannt wird

So erstaunt es nicht, dass die verfrühte Introversion eine Verdrängung der Lebenslust als Preis hat. Eine Verdrängung, die später aufgrund unserer polaren seelischen Struktur als Kompensations-Mechanismus bei vielen wiederum zu einer unkontrollierten Unruhe bis hin zu einem zerstörerischen Aktivismus führt. Genau dieser Aktivismus fördert dann seinerseits eine Haltung, die die positiven Qualitäten der Introversion zu wenig schätzt und integriert.

In unserer High-Performance-Kultur gibt es eigentlich keinen Platz für den materiellen Zerfall und das Altern, dass nicht nur, aber vor allem Frauen um jeden Preis zu verhindern suchen. Daran ändert auch das oberflächliche Schönreden des „Golden Age“ nichts. Wir haben in unserer Gesellschaft mit Ihrem Wachstums- und Veränderungswahn kein Verständnis mehr für den Wert von Tradition und Lebenserfahrung. Wo früher der Rat der Ältesten die Sippen führte, preschen heute smarte Leistungsoptimierer auf den Plan und versuchen mit ihrem unaufhörlichen Change Management den maximalen Profit für ihre aufgeblasenen Egos aus dem Rest der Normalsterblichen herauszupressen. Die Credit Suisse ist nur eines von vielen traurigen Beispielen dieser ruhelosen Selbstoptimierungs-Spirale: Die Zeche zahlt der Rest!

Introversion: Was uns wirklich fehlt

Die Gesellschaft ist, ohne dass wir das genügend zur Kenntnis nehmen, aus den Fugen geraten. Es fehlt uns die Qualität der Ruhe, Fokussierung auf das Wesentliche, die Geduld, die Weisheit und Lebens-Reife der Introvertierten, der lebenserfahrenen Alten oder gar den Ahnen, die als Weisheit in uns weiterlebt und uns den Rücken stärkt. Nur diese Qualitäten bieten das gesunde Gegengewicht zu einer zeitgenössischen Gier und Unruhe in uns. Die Qualität der Introversion bringt für mich das Lied „Mad World“ von Roland Orzabal zum Ausdruck:

Die Adaption von ‚Mad World‘ von Pentatonix

Fokussierung, Ruhe aber auch eine melancholische Stimmung prägen das Stück. Zur Introversion gehört ja auch die Trauer, ein weiterer unliebsamer Gast in unserer immer flacheren Welt.

Hindernisse auf der Achse Introversion – Extraversion

Die Achse der Introversion und Extraversion ist für das Wiederfinden des Gleichgewichtes in unserer Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Genau auf dieser Achse befinden sich auch die fünf buddhistischen Hindernisse für die Meditation und das menschliche Reifen:

Die Gier nach mehr treibt uns an und führt zu einer stetigen Unruhe in unserem Geist. Auf der anderen, introvertierten Seite der Achse hindern uns Zweifel und eine Trägheit. In der Mitte sitzt das fünfte Hindernis: der Widerstand, sich gar nicht erst einzulassen, weder auf die eine noch auf die andere Seite.

Zauberworte und eine kleine Übung

Es ist nicht zu spät, um sich der gesellschaftlichen Schieflage bewusst zu werden. Der Aufschwung passiert in uns, in einem subtilen Prozess der Selbst-Achtsamkeit. Dazu mag es hilfreich sein, zwei bedeutsame Zauberworte anzuwenden, die in unserer Gesellschaft bedeutsamerweise keine Hochkunjunktur haben.

  1. Dankbarkeit: Die Dankbarkeit ist rückwärtsgewandt und verbindet uns mit der positiven Ahnenkraft, die uns das mitgibt für die Welt, was für uns wichtig ist.
  2. Hoffnung: Sich nicht einfach das nehmen, was man will, sondern geduldig auf den richtigen Moment warten.

Eine kleine Übung zur Aktivierung der Ahnenkraft in uns kann an dieser Stelle hilfreich sein.

Nimm für einen Moment Kontakt auf mit dem Atem und spüre, wie wachsende Ruhe und Entspannung in dir einkehren. Lass los. Richte deine Aufmerksamkeit nach hinten und nimm deinen Rücken und Rücken-Raum wahr. Dehne dich nach hinten aus und nimm Kontakt über den Rücken mit deinen Eltern, Grosseltern und Ahnen auf, die im wahrsten Sinne des Wortes hinter dir stehen. Sieh, wie sie hinter dir eine lange Reihe bilden und dich unterstützen. Spüre, wie du wie eine Spitze ins Leben ragst und dir von hinten all das hoffnungsvoll zufliesst, was du brauchst. Nimm diese Kraft in dir auf und fühle, wie sich diese Kraft in die anfühlt und sich ausbreitet. Öffne dich dieser Kraft, indem du im Gegenzug deine Dankbarkeit den Ahnen zufliessen lässt. Nimm dir zum Schluss der Übung einen Moment Zeit, um zu spüren, wie sich diese Kraft in deinem Körper und deiner Seele anfühlt. Vielleicht spürst du an dieser Stelle auch einen Impuls, den du aus diesem Erlebnis ins Leben tragen möchtest.