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Arzt und Hirnforscher Joachim Bauer über Selbststeuerung und Achtsamkeit

Und der Wille ist doch frei

Neue Zürcher Zeitung, 5.5.2015, siehe unter www.nzz.ch/feuilleton/und-der-wille-ist-doch-frei

Einige Neurowissenschafter halten den freien Willen für eine Utopie – mit welchen Argumenten?

Die ganze Argumentation dieser Kollegen stützt sich auf ein berühmt gewordenes, aber falsch interpretiertes Experiment. Der amerikanische Physiologe Benjamin Libet liess Testpersonen «frei» entscheiden, innerhalb eines vorgegebenen, wenige Sekunden währenden Zeitfensters einen Knopf zu drücken. Die Probanden mussten jeweils genau angeben, wann sie den subjektiven Entschluss gefasst hatten, den Knopf zu drücken. Wie sich zeigte, tauchte in der Hirnstromkurve schon kurz vor diesem Zeitpunkt eine dem subjektiven Entschluss vorausgehende neuronale Aktivität auf. Diese unbewusste, der «Tat» vorauseilende Hirnaktivität war und ist bis heute das Argument gegen die Existenz eines freien Willens. Gerhard Roth und Wolf Singer, zwei auch von mir hochgeachtete Kollegen, argumentierten: Alle Entscheidungen, die unser Ich zu treffen meine, seien zuvor schon durch das Gehirn entschieden worden. Daher könnten Menschen für das, was sie tun, nicht verantwortlich gemacht werden.

Wo liegt Ihrer Ansicht nach das Missverständnis?

Bei der unbewussten, der Handlung vorausgehenden Hirnaktivität handelt es sich um das sogenannte Bereitschaftspotenzial, das einige Jahre vor Libets Experimenten von den beiden Neurowissenschaftern Hans Helmut Kornhuber und Lüder Deecke in Freiburg i. Br. entdeckt worden war. Beide Forscher haben die Schlussfolgerungen von Libet, Roth und Singer nachdrücklich verworfen. Denn zum einen ist das Libet-Experiment kein Modell für eine freie Willensentscheidung. Diese Entscheidung war nämlich bereits gefallen, als die Testpersonen zugestimmt hatten, am Experiment teilzunehmen. Und zum anderen hebelt das Bereitschaftspotenzial den freien Willen nicht aus. So können Testpersonen im Libet-Experiment den Knopfdruck im letzten Moment ausfallen lassen, obwohl in ihrem Gehirn bereits das Bereitschaftspotenzial «angelaufen» ist.

Sie halten die Negation des freien Willens nicht nur für falsch in der Sache, sondern auch für gefährlich. Warum?

Einige Forscher gaben Versuchspersonen einen Artikel zu lesen, in dem stand, die Existenz des freien Willens sei wissenschaftlich eindeutig widerlegt. Diese Probanden verhielten sich deutlich unverantwortlicher und unsozialer als zuvor. Es geht aber auch ohne Wissenschaft: Würden Sie sich – im Falle einer notwendigen Operation – gern in die Hände eines Narkosearztes begeben, der Ihnen vorher gesagt hat, er halte die freie Willensentscheidung für eine Illusion?

Was sind die Voraussetzungen, um einen freien Willen entfalten zu können?

Einen freien Willen zu besitzen, bedeutet nicht, dass wir aus der Realität aussteigen können. Unser Leben spielt sich innerhalb eines Korridors ab, der durch innere und äussere Gegebenheiten, vor allem aber durch biologische und soziale Bedingungen begrenzt ist. Innerhalb dieses Korridors können gesunde Menschen in einer gegebenen Situation jedoch innehalten und antizipieren, was die Folgen der jetzt zur Wahl stehenden Handlungsmöglichkeiten sind, und dann entsprechend Entscheidungen treffen. Um innehalten, um reflektieren, antizipieren und wählen zu können, braucht der Mensch ein funktionsfähiges Stirnhirn, also einen gut trainierten präfrontalen Cortex.

«Selbststeuerung», der Titel Ihres neuen Buches, umfasst unter anderem Selbstkontrolle, Verzicht. Lassen sich solche Tugenden angesichts der omnipräsenten Verführungen überhaupt noch vermitteln?

Genau hier liegt das Problem. Das Gehirn des Menschen verfügt über zwei Fundamentalsysteme: Ein bottom-up arbeitendes Triebsystem, das auf jeden Reiz reagieren, jeder Versuchung sofort nachgeben und jeden Frust sofort herauslassen will. Und ein top-down wirkendes, im präfrontalen Cortex beheimatetes System, das uns befähigt, aufsteigende Impulse zu bremsen, innezuhalten, abzuwägen und zu überlegen, was wir langfristig aus unserem Leben machen wollen. Die Aufgabe guter Selbststeuerung liegt darin, beide Systeme in Balance zu halten. Alle Gesundheitsstatistiken und von uns selbst ausgeführte Untersuchungen zeigen, dass wir hier ein echtes Problem haben.

In Ihrem Buch schreiben Sie, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle lerne man in den ersten Lebensjahren. Kann jedes Kind – bei entsprechender Erziehung – Verzicht üben?

Auf alle Fälle – zumindest, wenn es sich dabei um ein durchschnittlich gesundes Kind handelt. Um Selbstkontrolle erlernen zu können, benötigen Kinder allerdings zuerst ein Selbst. Dieses kann sich nur entwickeln, wenn das Kind in den ersten beiden Lebensjahren eine liebevolle Bindung zu Bezugspersonen aufbauen konnte, die es spiegeln und dabei spüren lassen: «Das bin ich!» Ab dem dritten Lebensjahr kann und muss das Kind dann liebevoll, aber auch konsequent angeleitet werden, die Perspektive anderer Personen zu berücksichtigen, also zu warten, zu teilen und seine Impulse zu bremsen. Die im präfrontalen Cortex angelegten Möglichkeiten auszuschöpfen, Kinder also zu erziehen, ist keine zivilisatorische Tünche, sondern Teil der biologischen Bestimmung des Menschen.

Woran liegt es, wenn Kinder diese Fähigkeit nicht erlernen – an den Eltern?

Nicht nur in Afrika, auch bei uns gilt der berühmte Satz: Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf. Das heisst, nicht nur die Eltern sind gefordert. Grosse Bedeutung kommt daher auch den Betreuungseinrichtungen zu.

Welche Rolle spielen die persönlichen, das heisst die erblichen Voraussetzungen des Kindes? Hat die Fähigkeit, Impulsen zu widerstehen, nicht auch genetische Wurzeln?

Sicher, aber auf andere Art und Weise, als man früher dachte. Gene sind eine Klaviatur, auf der das Leben spielt. Verlässliche Bezugspersonen und ein lernfreundliches, anregendes Umfeld aktivieren im Kind Gene, die sich günstig auf dessen Hirnentwicklung auswirken. Und umgekehrt führt ein nur auf schnellen Genuss ausgerichteter, hedonischer Lebensstil zur Aktivierung von Genen, die Herzerkrankungen, Krebs und Demenzleiden begünstigen. Das geht aus etlichen wissenschaftlichen Studien hervor.

Für alle jene unter uns, die ihren inneren Schweinehund nur schwer an die Leine zu nehmen vermögen: Gibt es Möglichkeiten, diesen im Erwachsenenalter noch zu bändigen?

Ja. Der entscheidende Schritt besteht aber nicht darin, nach irgendwelchen strengen Vorschriften zu leben oder gar der Lebensfreude adieu zu sagen. Eine Wende zum Guten bedeutet vielmehr, verantwortungsvoll für das eigene Wohl zu sorgen – ganz so, wie es eine gute Mutter oder ein guter Vater tun würde. Wer dieses Ziel erreicht, wird beginnen, sich nicht mehr durch E-Mails, soziale Netzwerke und das Smartphone terrorisieren zu lassen, wird beginnen, gesünder zu leben, etwa, indem er seine Nahrung umstellt, sich mehr bewegt oder auch weniger Zeit vor dem Bildschirm verbringt.

Gibt es Techniken, mit denen sich dieses Ziel besser erreichen lässt?

Eine sehr erfolgreiche Methode, die gerade eine Art Siegeszug durch unsere dauergestressten westlichen Gesellschaften antritt, ist die von Jon Kabat-Zinn an der Harvard University entwickelte Stressreduktion auf der Basis von Achtsamkeitsmeditation. Dabei handelt sich um eine Übungspraxis, die das Ziel hat, den unruhigen Geist zu fokussieren, innerlich zu sich zu finden und zur Ruhe zu kommen. Diese Technik, die man in kleinen Gruppen unter Anleitung von ausgebildeten Fachkräften lernen kann, lässt sich im Alltag in fast jeder Situation anwenden.

Gibt es nicht auch ein Zuviel an Selbstkontrolle, die in einer lustfeindlichen, zwanghaften Askese endet?

Ja, absolut. Selbstkontrolle um ihrer selbst willen galt insbesondere in Deutschland über viele Jahrzehnte hinweg als oberste Tugend. Sie wurde damals bereits Kindern eingebleut und hat – wie Sigmund Freud und andere erkannten – Millionen von Menschen seelisch schwer beschädigt. Sie hat Menschen zum Untertanengeist erzogen und damit auch einen Beitrag zu zwei Weltkriegen geleistet. Selbstkontrolle ist nur sinnvoll, wenn sie Teil einer guten Selbststeuerung und damit einer liebevollen Selbstfürsorge ist. Als Selbstzweck macht sie den Menschen krank.

Viele Krankheiten, darunter vor allem so häufige wie Herz-Kreislauf- und Krebsleiden, sind vornehmlich die Folge eines ungesunden Lebensstils und damit häufig einer mangelnden Selbststeuerung. Hat die moderne Medizin versagt?

Nein, aber wir Ärzte schöpfen die Heilpotenziale unserer modernen Medizin nicht aus, solange es uns nicht gelingt, den «inneren Arzt» des Patienten mit ins Boot zu holen. Viele Personen beginnen erst dann, sich mehr um das eigene Wohl zu kümmern, wenn bei ihnen eine schwere Krankheit, etwa Krebs, diagnostiziert wird. Ein solcher medizinischer Befund ist freilich immer auch eine Chance, von nun an fürsorglicher mit sich selbst umzugehen, die Prioritäten des eigenen Lebens neu zu ordnen und sich mehr auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ärztinnen und Ärzte können und sollten ihre Patienten auf diesem Weg begleiten und unterstützen – nicht zuletzt, weil Selbstfürsorge die körpereigenen Heilungskräfte beflügelt. So wird nach wie vor erheblich unterschätzt, welchen enormen Beitrag eine gute, vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung zum Heilungsprozess leisten kann.